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Unter der Stadt: Warum Stockholm von Schutzräumen durchzogen ist

Ein Blick unter die Oberfläche

Wer durch Stockholm schlendert, ahnt kaum, dass sich unter den Straßen, Häusern und Parkplätzen ein weit verzweigtes Netz von Schutzräumen verbirgt. In Einkaufszentren, U-Bahn-Stationen, Tiefgaragen und Wohnhauskellern finden sich über 4.000 Schutzräume allein in der Hauptstadt. Sie gehören zu einem Zivilschutzsystem, das seinesgleichen sucht. Doch warum existieren diese Räume eigentlich in einem Land, das seit über 200 Jahren nicht in einen Krieg verwickelt war?


1930er: Die Idee der Vorsorge entsteht

Provisorischer Schutzraum im Zweiten Weltkrieg, Köpmangatan 7, Gamla stan (Bildquelle: Wikipedia)
Provisorischer Schutzraum im Zweiten Weltkrieg, Köpmangatan 7, Gamla stan (Bildquelle: Wikipedia)

Bereits in den 1930er-Jahren begann Schweden, sich mit zivilen Schutzstrukturen zu beschäftigen. Inspiriert von anderen europäischen Ländern wurde die Frage laut: Was passiert mit der Bevölkerung bei Luftangriffen? Obwohl das Land neutral war, wuchs das Bedürfnis nach Vorbeugung. Erste einfache Luftschutzkeller entstanden in größeren Städten wie Stockholm.


1940er: Zweiter Weltkrieg ohne Beteiligung, aber mit Folgen

Im Zweiten Weltkrieg blieb Schweden militärisch neutral, doch die Gefahr blieb real. Die nächste Eskalation hätte auch Skandinavien erfassen können. In dieser Zeit wurden erste systematische Schutzanlagen unterhalb von Wohnblöcken und Schulen gebaut. Einige dieser Bauten existieren bis heute.


1950er bis 1980er: Der Kalte Krieg bringt den Bunker-Boom

Mit Beginn des Kalten Krieges wurde der Zivilschutz zur nationalen Strategie. Unter dem Konzept des "Totalförsvar" – der Gesamtverteidigung – wurde nicht nur das Militär, sondern die gesamte Gesellschaft auf einen möglichen Ernstfall vorbereitet.


Tausende Schutzräume wurden errichtet, viele davon in der Hauptstadt. Metrostationen wie Kungsträdgården oder T-Centralen wurden als Schutzanlagen mitgeplant: mit dicken Felswänden, Notbelüftung, sanitarer Infrastruktur und Stahlschutztüren. Parkgaragen konnten innerhalb weniger Stunden in Notunterkünfte verwandelt werden. Die Devise lautete: Jeder Bürger soll im Ernstfall innerhalb von 15 Minuten einen Schutzraum erreichen können.

Aus der Broschüre "Om kriget kommer - vägledning för Sveriges medborgare” (Wenn der Krieg kommt), 1961 (Bildquelle Wikipedia)
Aus der Broschüre "Om kriget kommer - vägledning för Sveriges medborgare” (Wenn der Krieg kommt), 1961 (Bildquelle Wikipedia)

1990er bis 2000er: Abbau und Vergessen

Mit dem Ende des Kalten Krieges flaute das Interesse am Zivilschutz ab. Viele Anlagen wurden zweckentfremdet, zur Lagerfläche oder Fahrradkeller umgebaut. Die Wartung wurde reduziert. Die Sicherheitslage erschien stabil, der Bedarf nach Schutzräumen schien Vergangenheit.


Seit 2017: Die Rückkehr der Vorsorge

Doch die geopolitische Lage änderte sich: Die Annexion der Krim 2014 und der Angriff auf die Ukraine 2022 sorgten für ein Umdenken. Die schwedische Regierung reaktivierte das Konzept des Totalförsvar.

Die legendäre Broschüre "Om krisen eller kriget kommer" (Wenn die Krise oder der Krieg kommt) wurde 2018 an alle Haushalte verschickt. Sie informiert über Notvorräte, Alarmzeichen und Schutzräume. Stockholm begann, alte Bunker wieder instand zu setzen und neue Schutzsysteme zu überprüfen. Schutzräume gelten wieder als aktiver Teil der Sicherheitsarchitektur.


Heute: Schutzraum als Alltagspartner

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Die meisten Räume sind heute im Alltag in Gebrauch: als Turnhallen, Tiefgaragen, Abstellräume. Doch im Ernstfall müssen sie innerhalb von 48 Stunden funktionsfähig sein. Die Bevölkerung kann auf offiziellen Karten online nachsehen, wo sich der nächstgelegene Schutzraum befindet.

Was früher verborgen war, wird heute wieder sichtbar gemacht – als Teil einer widerstandsfähigen Gesellschaft.


Ein Blick unter die Stadt lohnt sich

Stockholm ist nicht nur eine Stadt der Inseln, Cafés und Altbauten. Sie ist auch eine Stadt unter der Stadt – mit einer Infrastruktur, die leise, aber bestimmt daran erinnert: Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Und Vorsorge kein Anzeichen von Panik, sondern von Verantwortung.

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